Regionalentwicklung für nachhaltigere Ernährung mit dem Modell der solidarischen Landwirtschaft

HINTERGRUND: Ein niedriger Selbstversorgungsgrad, Importe & Externalitäten

Seit etwa drei Jahrzehnten wird es immer normaler, Nahrungsmittel, die in anderen Ländern produziert werden, hier in Deutschland zu kaufen. Dabei handelt es sich zum einen um Produkte, die hier nicht heimisch sind, zum anderen aber um Produkte, die hier auch produziert werden könnten, aber trotzdem aus wirtschaftlichen oder saisonalen Gründen importiert werden.

In Deutschland ist der Selbstversorgungsgrad (= „Wie viel Prozent der benötigten Agrarerzeugnisse werden im eigenen Land produziert“ (1)) recht hoch (89% im Jahr 2019), aber variiert dennoch stark bei den verschiedenen Nahrungsmittelgruppen: Während die Produktion von Schweinefleisch, Kartoffeln, Milch oder Zucker über 100% des Selbstversorgungsgrades geht und Deutschland zu Exporten zwingt, werden nur 37% des benötigten Gemüses und nur 22% des benötigten Obstes in Deutschland selbst erzeugt. Gerade bei den gesündesten Lebensmitteln weist Deutschland eine hohe Importabhängigkeit auf (2).

Diese Abhängigkeit ist nicht der einzige Nachteil, der sich durch Importe dieses Ausmaßes entwickelt. Die Produktion im Ausland führt zu einem Rückgang der lokalen Arbeitsplätze in der Nahrungsproduktionsbranche. Zudem muss auch mit grenzwertigen, prekären Arbeitsbedingungen bei Produktionen im Ausland, besonders außerhalb der EU, gerechnet werden. Kinderarbeit zum Beispiel ist noch immer in vielen Ländern in der Produktion präsent (3). Aber selbst in Spanien oder Italien sind häufig Geflüchtete ohne Schutzstatus lediglich in Zelten untergebracht, versprühen Pestizide ohne Schutzkleidung und verrichten schwere körperliche Arbeit ohne ärztliche Versorgung (4).

Zudem müssen die Produkte oft weite Strecken transportiert werden. Dies treibt die Klimakrise durch den CO2-Ausstoß der Transportmittel weiter in die Höhe. Zum Vergleich: Ein Kilogramm lokaler Äpfel aus saisonaler Produktion setzt ca. 0,3 kg CO2-Äq frei, ein Kilogramm Äpfel aus Neuseeland 0,8 kg CO2-Äq (5). Durch die ausgelagerte Produktion muss man sich zudem den Produktionsstandards in Hinsicht auf Pestizide oder Düngemittel anderer Länder beugen, welche nicht nur die Umwelt schädigen, sondern auch unsere Gesundheit (6).

Die Länder, die unser Gemüse und Obst produzieren müssen, müssen die daraus entstehenden sozialen und ökologischen Externalitäten allein tragen. Ein Beispiel dafür ist Spanien, einer von Deutschlands wichtigsten Tomatenlieferanten. Die spanische Tomatenproduktion verbraucht jährlich 71 Mio. m³ Wasser, 19.7 Mio. m³ davon nur für den deutschen Konsum (7). Dies führt in Spanien zur teils illegalen Nutzung des bereits überstrapazierten Grundwassers (8), ein Desaster für die Umwelt und Menschen vor Ort. Zum Vergleich: Eine Tomate aus Südspanien benötigt 20 Liter Wasser zum Wachsen – eine Tomate aus Deutschland nur 3 Liter (9). Soziale und ökologische Externalitäten werden von den Produktionsorten und den dort lebenden Menschen getragen und meist durch keine Firma entschädigt: Unser Konsum schafft auf der ganzen Welt Probleme, die wir weder lösen noch finanziell ausgleichen.

Durch die günstigeren Produktionsumstände in anderen Ländern werden die globalen Preise beeinflusst und die Konkurrenz verstärkt. Die Konsumenten haben sich an niedrige Preise und ein Angebot gewöhnt, welches sich nicht mehr an den Jahreszeiten orientiert. Dies bringt lokale Landwirte und Landwirtinnen in immer schwierigere wirtschaftliche Situationen: In manchen Jahren verlieren deutsche Landwirte 35% ihres Einkommens im Vergleich zum Vorjahr (10), was Investitionen für die Betriebe unplanbar macht. Zudem sorgen die unvorhersehbaren Wetterbedingungen für immer mehr Probleme im Anbau, was die Konditionen der Betriebe nochmals verschärft: „Der Deutsche Bauernverband (DBV) rechnet auch in diesem Jahr mit einer enttäuschenden Ernte.“ (11)

Eine weitere Konsequenz der fernen Nahrungsmittelproduktion ist, dass Menschen keinen Bezug zur Erzeugung mehr haben und dadurch auch nicht mehr zu den Problemen, die Teil der Nahrungsproduktion sind. Dabei geht viel Wissen über Anbau und Nahrung allgemein, aber besonders über lokale Kulturpflanzen verloren. Zudem sinkt auch die Wertschätzung der Konsumenten dem Nahrungsmittel gegenüber. Knapp unter 80% der Menschen in Deutschland leben in Städten (12). Für diese Menschen muss ein Angebot geschaffen werden, dass lokale, saisonale, gesunde und nachhaltige Ernährung bieten kann; gleichzeitig müssen unsere regionalen landwirtschaftlichen Betriebe unterstützt werden.

INNOVATION: Regionale Solidarität zwischen Betrieben und Menschen

Die BE Solutions sieht ein hohes Potential im Modell der solidarischen Landwirtschaft, auch „Solawi“ genannt. Die wesentlichen Prinzipien der solidarischen Landwirtschaft sind Gemeinschaft und Teilen: Nahrungsmittel, Arbeit, Kosten, Verantwortung, Risiken und Entscheidungen werden von einer Gruppe Menschen geteilt (13). Eine Solawi kann sowohl von einem Betrieb gestartet werden, der sich eine Gemeinschaft aufbaut, als auch von einer Gemeinschaft, die sich einen Betrieb sucht, mit dem die Solawi umgesetzt werden kann. Das Prinzip der Solawi ist in dem Sinne keine wirkliche Innovation, aber eine Wieder-Entdeckung: Jahrhundertelang war die Versorgung einer Gruppe durch einen Betrieb Normalität. Erst seit der Industrialisierung und dem neuen städtischen Lebensraum für einen Großteil der Bevölkerung wurden diese Prinzipien durch einen offenen Markt ersetzt (14).

Wie läuft eine Solawi heute ab? Auf diese Frage gibt es nicht eine klare Antwort, denn jede Solawi organisiert sich intern in Gemeinschaft und passt den Ablauf des gemeinsamen Projektes an die jeweiligen Bedürfnisse an. Aber fest steht: Gemeinsam wird finanziert, und gemeinsam wird genossen – und das alles absolut regional.

Die Erträge gehen nicht mehr den üblichen Verkaufsweg über den Markt, werden nicht exportiert und nur regional verzehrt. Als Unternehmensberatung mit Fokus auf nachhaltige und funktionelle Strategien sehen wir darin für die lokale Wirtschaft, die Umwelt und die Menschen große Vorteile und ein vielversprechendes Potenzial.

Es entsteht eine wirtschaftliche Sicherheit für die lokalen Betriebe, da diese sich unabhängig von Marktpreisschwankungen und anderen unvorhersehbaren Geschehnissen (wie die Pandemie zum Beispiel) schützen kann: Die sichere Unterstützung der Gemeinschaft baut einen verlässlichen Zukunftsrahmen für den Betrieb auf. Durch die verbindliche Dimension einer Solawi-Mitgliedschaft ist jedes Investment nachhaltig angelegt. So kann ein Betrieb einfacher und auch diverser planen – denn er muss nur die Bedürfnisse der Gemeinschaft erfüllen und nicht die des Marktes oder weniger großer Abnehmer. Eine Solawi befreit sich also vom heutigen ökonomischen Zwang (15) und kann sich freier und vielfältiger entfalten. Ganze Quartiere in Städten oder ländlichere Regionen können von einer Ernährungssouveränität profitieren. Zusätzlich sind die Produkte gesünder, da sie reif und voller Nährstoffe geerntet und verzehrt werden. Der kurze Transport verringert den CO2-Fußabdruck der Nahrungsmittel zusätzlich erheblich – ein wichtiger Schritt gegen die Klimakrise und für unsere Umwelt. Für saisonalen Gemüseanbau wird außerdem weniger Energie verbraucht, und ein vielfältiger und wechselhafter Anbau verschiedener Kulturpflanzen ist vorteilhaft für das Ackerland und einen gesunden, humusreichen Boden. Besonders auf kleineren, umweltbewussten Höfen wird zudem oft auf einen minimalen Verbrauch von Pestiziden geachtet – die Solawi Mitglieder können sich diesbezüglich auch einsetzen. Die führt zu einem generellen positiven Einfluss auf die Gesundheit der Böden, Gewässer, deren Ökosysteme und die der Menschen und Tiere (15).

Als globale Gesellschaft profitieren alle von einer lokalen, saisonalen Ernährung. Wenn man von einer Solawi lebt, lebt man nicht auf Kosten der ökologischen oder sozialen Externalitäten anderer Länder. Zudem wird den Mitgliedern einer Solawi die Produktion von Nahrungsmitteln wieder nähergebracht – durch Bildung Wissen erhalten! Die höhere Wertschätzung, die den Produkten entgegengebracht wird, hilft auch, dass weniger Lebensmittel entsorgt werden. Bei einer Gesellschaft, die während einer Klimakrise ca. 1/3 ihrer Lebensmittel verschwendet (16) ist ein Umdenken dem Verbrauch von Nahrungsmitteln gegenüber von enormer Wichtigkeit. Auch in Hinsicht auf das Prinzip von Solidarität: Wir müssen als Gesellschaft auf globaler, aber auch auf regionaler und lokaler Ebene wieder lernen, am selben Strang zu ziehen. Ein Solawi-Betrieb kann der Rahmen sein, in dem dies möglich wird, während gleichzeitig die lokale Wirtschaft (und Region) nachhaltig finanziell ökologisch und sozial unterstützt wird.

Best Practice

Wie in unserem letzten Newsletter bereits erwähnt, passt die StadtFarm, Teil der BE Unternehmensgruppe, ihr Konzept an: Für eine zukunftsfähige Solidarische Landwirtschaft! Bis zu 150 Mitglieder wird die StadtFarm aufnehmen und versorgen können. Gemeinsam mit den Mitgliedern wurde in einer ersten Veranstaltung alle aufkommenden Fragen bezüglich der Ernteanteile, der logistischen Organisation und der Planung der Gemüsesorten besprochen. Jedes Mitglied kann sich wöchentlich über einen Ernteanteil freuen, welcher zu ausgemachten Zeiten abgeholt werden kann oder gegen einen Aufpreis nach Hause geliefert wird. Monatlich wird jedes Mitglied mit einem saisonalen Gemüseanteil von ca. 15 kg aus Anbau in Kreislaufwirtschaft versorgt. Dies kann sogar für eine kleine Familie reichen!

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Quellen:

  1. https://de-statista-com.revproxy.escpeurope.eu/statistik/daten/studie/76634/umfrage/selbstversorgungsgrad-mit-gemuese-in-deutschland/
  2. https://de-statista-com.revproxy.escpeurope.eu/statistik/daten/studie/1230544/umfrage/selbstversorgungsgrad-mit-ausgewaehlten-agrarerzeugnissen-in-deutschland/
  3. https://www.globalagriculture.org/whats-new/news/en/33714.html
  4. https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/europas-dreckige-ernte-114.html
  5. https://www.ifeu.de/fileadmin/uploads/Reinhardt-Gaertner-Wagner-2020-Oekologische-Fu%c3%9fabdruecke-von-Lebensmitteln-und-Gerichten-in-Deutschland-ifeu-2020.pdf
  6. https://www.greenpeace.de/themen/landwirtschaft/pestizide-machen-krank#:~:text=Besonders%20gef%C3%A4hrlich%20f%C3%BCr%20Verbraucher%20sind,das%20Immunsystem%20beeintr%C3%A4chtigen%2C%20Allergien%20ausl%C3%B6sen.
  7. https://waterfootprint.org/media/downloads/Chapagain-and-Orr-2009_1.pdf
  8. https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/Wasserrisiko_Fallbeispiel_Tomaten_aus_Spanien.pdf
  9. https://www.zdf.de/nachrichten/heute/oekobilanz-der-spanischen-tomate-100.html
  10. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/deutsche-landwirte-haben-mehr-als-ein-drittel-ihrer-einkommen-verloren-13955479.html
  11. https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fwirtschaft%2F2021-08%2Fdbv-ernte-rueckgang-landwirtschaft-getreide,
  12. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/662560/umfrage/urbanisierung-in-deutschland/
  13. https://www.solidarische-landwirtschaft.org/solawis-aufbauen/aufbau-einer-solawi
  14. http://urbanagriculturebasel.ch/wp-content/uploads/2015/09/Urban-Agriculture_Solidarische-Landwirtschaft-eine-soziale-Innovation_Forschungs-Abschlussbericht_SoLawi_final_mit-CC-Lizenz.pdf
  15. https://www.solidarische-landwirtschaft.org/fileadmin/media/solidarische-landwirtschaft.org/Sonstiges/Handbuch_Solidarhoefe.pdf
  16. https://www.welthungerhilfe.de/lebensmittelverschwendung